Pressemitteilung der Deutsch-Eritreische Gesellschaft e.V. (DEG) zur tödlichen Messerattacke auf Ece Sarigül am 05.12.2022 in Illerkirchberg

Pressemitteilung der Deutsch-Eritreische Gesellschaft e.V. (DEG) zur tödlichen Messerattacke auf Ece Sarigül am 05.12.2022 in Illerkirchberg
Bildquelle: www.stern.de

Mit größter Bestürzung und tiefer Trauer haben wir die Nachricht von Ece Sarigüls Tod infolge einer Messerattacke am Montag, 05.12.22, in Illerkirchberg vernommen. Ihrer Familie und ihren Angehörigen, Freunden und der Alevitischen Gemeinde in Ulm sprechen wir im Namen aller Mitglieder der Deutsch-Eritreischen Gesellschaft (DEG) unser tiefempfundenes Mitleid aus.

Ohne dem Ausgang der Ermittlungen vorzugreifen, spricht derzeit alles dafür, dass die furchtbare Tat von einem 27 Jahre alten eritreischen Geflüchteten begangen wurde, der als Asylbewerber in einem nahe gelegenen Flüchtlingsheim lebt und momentan wegen Verletzungen, die er sich selbst beigebracht hat, im Justizvollzugskrankenhaus behandelt wird.

Ähnlich schlimme Vorfälle, in die überwiegend jüngere, männliche Geflüchtete aus unterschiedlichen Krisenregionen – neben Eritrea etwa Somalia, Syrien und weiteren Ländern – verwickelt waren, hat es in der jüngeren Vergangenheit mehrfach gegeben. Und wie auch jetzt blieb die Frage, wie es zu derartigen Gewalttaten kommen konnte, was die jeweiligen Täter zu einem alle Schranken durchbrechenden Exzess getrieben hat, zunächst unbeantwortet.

Was die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles angeht, haben auch wir darauf keine Antwort. In Anbetracht der aus dem jetzigen weiteren tieftraurigen Anlass erneut entflammten öffentlichen Diskussion über Ursachen und Konsequenzen sehen wir uns jedoch in der Verantwortung, Stellung zu beziehen, soweit es um Geflüchtete mit vermeintlicher oder tatsächlicher eritreischer Staatsangehörigkeit geht.

Denn so sehr wir es einerseits menschlich nachvollziehen können, dass die Debatte vielfach hochemotional und mit einem Drang zu schnellen Lösungen geführt wird, glauben wir andererseits nicht, dass Schnellschüsse wie die weitere Verschärfung des Asylrechts, eine schnellere Abschiebung oder ein noch weiterer Ausbau der „Festung Europa“ (Frontex) geeignet sind, irgendwelche Ursachen zu bekämpfen. Hinsichtlich der Situation von Geflüchteten, die zuletzt als Eritreer in Deutschland Asyl beantragt haben, sind aus unserer Sicht vor allem folgende Faktoren maßgeblich:

  1. Eritrea wird hierzulande in der öffentlichen Wahrnehmung gleichbleibend – wider die Faktenlage und die Verhältnisse vor Ort – als „Nordkorea Afrikas“ stigmatisiert. Konsequenz dieser Politik ist die hohe Wahrscheinlichkeit einer Asylgewährung für alle Geflüchteten, die eine eritreische Herkunft reklamieren. Dies hat sich herumgesprochen mit der Folge, dass sich Asylbewerber aus dem gesamten nordostafrikanischen Raum als „Eritreer“ ausgeben, während tatsächlich nur eine Minderheit die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt bzw. dem eritreischen Territorium entstammt. Um die Chancen auf Asylgewährung zu erhöhen, werden von den Betroffenen „Horror“-Geschichten und Tragödien erfunden („made-up stories“), mit denen die Betroffenen leben müssen und die bei vielen von ihnen schwere seelische Konflikte auslösen („living with the lie“).
  2. „Human Trafficking“ und die Praktiken von Schleuserbanden sind schon für sich genommen schlimm genug. Im Falle Eritreas kommt jedoch noch hinzu, dass der Westen das Herausholen von fast ausschließlich jungen Menschen aus Eritrea als Teil einer „Regime Change Agenda“ betreibt. Diese Politik des „Ausblutens“ insbesondere durch gezielte Abwerbung von gut ausgebildeten Fachkräften hat nicht nur verheerende Folgen für das Land selbst, sondern setzt auch die Betroffenen dem harten Widerspruch von versprochener und erlebter Realität in Deutschland aus. Zusätzlich wird von ihnen noch erwartet, dass sie die westlichen Klischees von den katastrophalen und „unmenschlichen“ Bedingungen in ihrem Heimatland bedienen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich zu vergegenwärtigen, was das mit jungen Menschen macht, die überwiegend noch Familienangehörige in Eritrea und eine entsprechende Identität haben.
  3. Die eritreischen Gemeinden (communities) in Deutschland zählen – wie dies auch in der weltweiten eritreischen Diaspora der Fall ist – zu den bestorganisierten überhaupt und reichen vielfach bis in die 70er Jahre zurück. Sie gewährleisten Anschubhilfe, soziale Integration, den Erhalt kultureller Identität, und damit zugleich auch gesellschaftliche Kontrolle. Da der mediale Mainstream, die Politik und zunehmend auch die Administration die eritreischen Gemeinden jedoch als „Diktatoren-Unterstützer“ diffamiert und auch im Alltag ausgrenzt (etwa bei Raumvergabe für Veranstaltungen), und da alle in irgendeiner Weise gegen Eritrea gerichteten Aktivitäten kritiklose Protektion genießen, werden erstere als Anlaufstellen für neu ankommende Geflüchtete diskreditiert. Die Anti-Eritrea-Politik hat daher – gewollt oder ungewollt – den Effekt, dass junge Menschen mit traumatischen Fluchterfahrungen noch mehr allein gelassen werden, als sie es ohnehin schon sind.
  4. Wie jeder Experte weiß, ziehen sich Asylverfahren oder Streitigkeiten um Aufenthaltsgenehmigungen oftmals über Jahre hin. Das zwar nirgends kodifizierte, aber de facto bestehende „Mehrklassenrecht“ bei Geflüchteten (Ukraine ganz oben, Afrika ganz unten) wird im Falle Eritreas nochmal verstärkt, denn die Kombination „Afrika / Problemland“ ist eine sichere Garantie für einen Status als Geflüchteter 3. Klasse. Die generelle Erfahrung – wenige Ausnahmen bestätigen die Regel -, dass Asylbewerber mit sowohl ihren tagtäglichen als auch ihren seelischen Problemen weitestgehend allein gelassen werden, trifft für afrikanische Geflüchtete, und damit gerade für junge Eritreer, in besonders hohem Maße zu.

Wir haben die vorstehenden Faktoren, deren Aufreihung sich fortsetzen ließe, nicht deswegen beispielhaft aufgeführt, um das Schreckliche der Tat von Illerkirchberg und das dadurch bewirkte Leid in irgendeiner Weise zu relativieren. Es ist und bleibt erschütternd. Und dass solche Taten, individuell betrachtet, stets einen extremen psychischen Ausnahmezustand des Täters implizieren, ist eine ebenso traurige wie triviale Wahrheit. Wir wenden uns jedoch gegen das populistische Narrativ, die Täter würden aufgrund der behaupteten Verhältnisse in ihren Herkunftsländern gleichsam als „tickende Zeitbomben“ in Deutschland ankommen, um dann hier Unheil anzurichten.

Dies ist nicht nur zu einfach, sondern verfälscht und verkehrt letztlich die Realitäten. Zu diesen gehört auch, dass eine Migrationspolitik, die Geflüchtete oder Asylbewerber als Manövriermasse zur Durchsetzung geopolitischer Interessen begreift und missbraucht, eine substantielle Mitverantwortung trifft, wenn Verzweiflung in Gewalttaten umschlägt. Der Tod von Ece Sarigül und der in diesem Zusammenhang geschehene Suizid eines an der Tat nicht beteiligten 25-jährigen eritreischen Geflüchteten sind ein weiteres Mal die unter anderen Umständen vermeidbaren und traurigen Konsequenzen einer Politik, welche strategisches Kalkül an die Stelle von Humanität und Völkerverständigung setzt.

Vorstand der Deutsch-Eritreischen Gesellschaft e.V. (DEG)

Frankfurt, 13.12.2022 

DEG