Wende am Horn von Afrika (DEG Artikel zur Afrika-Beilage der jungen Welt)

„Zwei Glatzköpfige streiten um einen Kamm“, so oder ähnlich titelten FAZ, SPIEGEL & Co., als 1998 zwischen Äthiopien und Eritrea ein blutiger Grenzkrieg ausbrach. Der Titel, der angesichts von über 100.000 Toten zynisch wirkt, sollte weniger ausdrücken, dass es in dem umkämpften Badme-Dreieck „kaum etwas zu holen“ gab. Den Autoren war daran gelegen, die Chefs der Kriegsparteien, Meles Zenawi und Isayas Afewerki, als notorische Befreiungskrieger darzustellen, die aus Eitelkeit ihre Länder in eine ebenso irrationale wie folgenschwere Auseinandersetzung treiben.

Noch kurz zuvor waren die beiden ehemaligen Anführer der EPLF (Eritreische Volksbefreiungsfront) und TPLF (Tigrayische Volksbefreiungsfront), gemeinsam mit Yoweri Musenivi, dem ugandischen Staatschef, von den Medien als charismatische „Entwicklungsdiktatoren“ stilisiert worden. Gemeint war: westlicher Demokratie abgeneigt, aber stur dem Fortschritt ihrer Länder verschrieben und erstaunlich korruptionsfrei. Eine gewisse Irritation war spürbar.

Knapp 25 Jahre später herrscht erneut Krieg. Diesmal in Äthiopien selbst, der Provinz Tigray, die an Eritrea und Sudan grenzt. Beteiligt sind die Zentralregierung in Addis Abeba und der Regionalregierung in Mekelle, der Hauptstadt Tigrays. Während Äthiopiens Ministerpräsident. Abiy Ahmed von einer „law enforcement“-Aktion zur Abwehr der militärischen Aggression durch die TPLF-Führung spricht, beruft sich diese auf das Recht zur Selbstverteidigung gegen eine vollständige Entmachtung. Diese Gefahr drohe, so TPLF-Chef Debretsion Gebremichael, auch durch Eritrea, das
auf äthiopischer Seite involviert sei.

Abiy Ahmed, der 2019 den Friedensnobelpreis für den Friedensschluss mit dem früheren „Erzfeind“ Eritrea erhalten hat, mutiert in den Medien nun vom Heilsbringer zur Unperson, die ihr wahres Gesicht zeige und die Zentrifugalkräfte des Vielvölkerstaats nicht in den Griff bekomme. USA und EU setzen eine rege Pendeldiplomatie in Gang, verbunden mit stets schärferen Forderungen nach humanitärer Intervention, Korridoren, freiem Zugang in das Krisengebiet und Verhandlungen (unter ihrer Supervision?). Sanktionen werden angedroht. In den UN-Gremien, insbesondere im
Sicherheitsrat, blockieren China, Russland und Indien entsprechende Vorstöße. Dieser Zustand dauert an.

Die Versorgungslage und humanitäre Situation in Tigray einschließlich der Flüchtlingslager im Sudan ist katastrophal, es gibt über eine halben Million Vertriebene, ca. 2,5 Millionen vom Hungertod Bedrohte, berichtet werden Vertreibung, Vergewaltigung, Plünderung. Die TPLF rekrutiert zwangsweise Kindersoldaten. Ägypten und Sudan nutzen die Situation, indem sie den Druck auf Äthiopien wegen der Inbetriebnahme eines Staudamms -es geht um den „Grand Dam“ am Nil in Westäthiopien – kontinuierlich verstärken. Das Projekt ist für die wirtschaftliche Entwicklung Äthiopiens von enormer Bedeutung, niemand bestreitet das Recht zum Bau einer Talsperre, der Streit entzündet sich an der Befüllung, deren Geschwindigkeit die Wasserversorgung der Nil-Anrainer-Staaten beinträchtigen könnte.

Der Konflikt in Tigray ist weder ein ethnischer noch beruht er auf Machtgelüsten oder Eitelkeiten Einzelner. Er ist – wie stets in Afrika – (nach)kolonialer Natur und letztlich den Interessen sowie Aktionen der westlichen Großmächte geschuldet:

Aufgrund seiner geographischen Lage gegenüber der arabischen Halbinsel und als Nadelöhr zum Indischen Ozean war das Horn für Afrika schon immer einer der „hot spots“ der Welt. Eritrea mit seiner 1200 km langen Rotmeerküste war eine italienische Kolonie und wurde nach 1945 britisches Protektorat. Als das zukünftige Schicksal des Landes entschieden werden musste, wurde Eritrea gegen den Willen seiner Bevölkerung mit Äthiopien zunächst zwangsföderiert und später allen Autonomie-Garantien zum Trotz annektiert. John F. Dulles, amerikanischer Außenminister, erklärte 1952 offen, dies sei zwar völkerrechtswidrig, aber aufgrund „höherer strategischer Interessen“
unvermeidlich.

n einem 30-jährigen opferreichen Befreiungskampf, nach Indochina dem längsten des 20. Jahrhunderts, erkämpfte die ELPF erst gegen den mit den USA verbündeten Feudalstaat Haile Selassie´s und ab 1978 das von der UdSSR unterstützte „Obristen-Regime“ Mengistu Haile Mariams 1991 die Unabhängigkeit. Der Sieg der EPLF machte zugleich den Weg frei für die 1975 gegründete TPLF, die mit den mechanisierten EPLF-Verbänden in Addis Abeba einzog. Als größte und bestorganisierte unter den äthiopischen Befreiungsbewegungen (Afar, Oromo und weitere) riss die TPLF die Macht an sich und wurde, obwohl die Tigray nur 6 % der äthiopischen Bevölkerung ausmachen, zur dominierenden Kraft in der neu gegründeten EPRDF (Ethiopians Peoples Revolutionary Democratic Front).

Die langjährige Waffenbrüderschaft mit der EPLF hinderte Meles Zenawi, die Zentralfigur der TPLF, nicht daran, sich den USA in Geheimverhandlungen als Garant für deren Interessen am Horn anzubieten. Einzige Bedingung: Handlungsfreiheit in ganz Äthiopien und Finanzierung. Die US-Regierung, stets auf der Suche nach einem säkularen, großen, aber willfährigen Sachwalter ihrer Interessen, willigte ein. Äthiopien avancierte zwischen 1991 und 2018 zum größten Empfänger finanzieller Hilfsleistungen in Afrika. Dabei störte weder die USA noch die EU, dass die nach Addis
Abeba geflossenen Milliarden größtenteils direkt auf Auslandskonten transferiert wurden. Bei der äthiopischen Bevölkerung kam nichts an, dafür der westlichen Rüstungsindustrie, welche die TPLF mit Waffen belieferte – „cash back“ einmal anders.

Als die Regierung in Asmara davon Kenntnis erlangte, wurden die Risse zwischen den ehemals Verbündeten ab Mitte der 90er Jahre immer tiefer. Aber nicht allein deswegen. Die TPLF hatte ihr Manifest für einen „Ethnischen Föderalismus“ in der EPRDF als tragende Staatsstruktur beschließen lassen. Die Aufteilung in Regionen und die Administration sollten sich strikt entlang ethnischer Grenzen vollziehen – ein Konzept, vor dessen Folgen die eritreische Regierung wiederholt gewarnt hatte. Mit der Einführung einer eigenen Währung (Nakfa) in Eritrea kam es zum endgültigen Bruch, der – nachdem äthiopisches Militär die Mitglieder einer eritreischen Delegation in Badme getötet
hatte – 1998 eskalierte. Das im Jahre 2000 ausgehandelte „Algiers Peace Agreement“, welches von allen Beteiligten als final und bindend anerkannt worden war, hat die Zenawi-Regierung durch Verweigerung einer entsprechenden Grenz-Demarkation niemals umgesetzt. Die Folge war ein „no peace no war“-Zustand, der Eritrea, ein Land mit 7,5 Mio. Einwohnern, in ständiger Alarmbereitschaft hielt. Trotz des klaren Völkerrechtsverstoßes haben die USA und die EU keinen Finger gerührt, um Äthiopien zur Einhaltung des Abkommens zu veranlassen.

Der Tod von Meles Zenawi 2012 und die schweren Unruhen in allen Regionen, die sich ab 2015 gegen die immer brutalere Unterdrückung und wirtschaftliche Benachteiligung auflehnten, läuteten das Ende des TPLF-Regimes ein. Als Abiy Ahmed, ein Oromo, 2018 zum neuen Premier gewählt wurde, begann ein Umbruch, dessen Kernpunkte die Aufgabe der ethno-zentristischen Strukturen und eine Landreform waren. Nach dem Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea am 18. Juli 2018 zog die TPLF-Führungsclique sich nach Tigray zurück und verschärfte die Gangart im Konflikt mit der Zentralregierung. Endpunkt dieser Entwicklung war der Überfall von TPLF-Spezialkommandos auf das in Tigray stationierte Northern Command, bei dem über tausend Soldaten der EDF (Ethiopian Defense Forces) ermordet wurden. TPLF-Chef Debretsion begründete den Überfall ebenso wie
Raketenangriffe auf eritreische Städte mit dem „israelischen Prinzip des Präventivschlags zur Selbstverteidigung.“

Erklärtes Ziel der TPLF, die nach 27 Jahren an der Macht noch immer über ein weitgehend intaktes Netzwerk im Ausland und beträchtliche Geldmittel verfügt, ist die Destabilisierung und Fragmentierung Äthiopiens in einem Ausmaß, das eine Intervention von außen triggern könnte. Die große Frage ist, ob die USA und die EU bei einem Szenario mitmachen, das auf eine Balkanisierung–des Horns von Afrika zugunsten von „failed states“ – das wäre die „Somalisierung“ – und ethno–faschistischen Regimes hinausläuft. Äthiopien ist das einzige Land Afrikas, das niemals kolonisiert werden konnte, und nicht ohne Grund Sitz der OAU. Mit dem IGAD (Intergovernmental Authority on Developement)-Abkommen, an dem acht ostafrikanische Staaten beteiligt sind, und dem Schulterschluss zwischen Äthiopien und Eritrea, der eine Strahlkraft weit über die beiden Staaten hinaus hat, ist erstmals eine Perspektive für Kooperation und Prosperität ohne Fremdbestimmung eröffnet.

Am letzten Samstag fand in Frankfurt eine gemeinsame Demonstration von Äthiopiern und Eritreern für „Frieden und Stabilität am Horn von Afrika“ statt. „China, Russia, India – Thank You! USA and EU – Shame on You!” war immer wieder zu hören. Letztere werden sich entscheiden müssen, ob ein Frieden, an dem sie nicht beteiligt waren, wirklich schlechter ist, als ein Krieg, den sie finanziert haben. Denn viel deutet darauf hin, dass auch dann, wenn der Westen zurückbleibt, Äthiopien und Eritrea ihren Weg weitergehen.


Dirk Vogelsang
Fithawie Habte
DEUTSCH-ERITREISCHE GESELLSCHAFT (DEG)

DEG