Interview 1 mit S. (Januar 2023)
S. wurde 1991 in Areza/ Zoba Debub/ Eritrea geboren. Sie sind sechs Geschwister, drei Jungen und drei Mädchen. S. lebt in Deutschland, ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie arbeitet und möchte einen weiteren Sprachkurs in Deutsch belegen.
Kannst Du etwas zur Rolle Deiner Mutter sagen?
Meine Mutter hat sehr früh geheiratet, mit 12 Jahren. Sie ist Hausfrau und hilft meinem Vater bei der Arbeit auf den Feldern. Sie ist Analphabetin, ist aktuell 76 Jahre alt und lebt im Dorf Areza. Sie hat viel gearbeitet, den Haushalt geführt und die Kinder großgezogen. Sie sagte uns Kindern, dass Schule sehr wichtig ist und alle 6 Kinder wurden in die Schule geschickt. Wir haben alle nach der Schule mit auf dem Feld geholfen. Meine Mutter war später mit der Rollenverteilung nicht mehr einverstanden, denn die Hausarbeit war für die Jungs Tabu, wir Mädchen haben auch im Haushalt helfen müssen, obwohl wir, genau wie die Männer, auch auf dem Feld gearbeitet haben.
Wie fandst Du es, dass Du als Kind nicht frei spielen konntest?
Das hat mir nichts ausgemacht, das Arbeiten war für mich wie ein Spiel, denn auch die Nachbarskinder haben gearbeitet. Im Gegenteil, das hat meine Wertschätzung für die Arbeit meiner Eltern vergrößert und meine Selbstständigkeit in meinem sozialen Umfeld gestärkt.
Was hat Dir Deine Mutter weitergegeben?
Selbstständigkeit. Und dass ich für meine Zukunft in die Schule gehen soll, um mich weiter zu bringen und mein Land aufzubauen. Da sie diese Möglichkeit nicht hatte, wollte sie es für uns anders machen und das ist ihr sehr gut gelungen. Ich habe meine 12. Klasse beendet und mein Pflichtjahr in Sawa abgeleistet. Meine Mutter ist für mich alles (weint), eine starke, fleißige Frau, eine liebevolle Mutter, so will ich sein. Sie konnte ihre Kindheit nicht ausleben. Ich vermisse sie jeden Tag. Ihre Rolle in der Familie war alles, sie ist mir unvergesslich.
Was würdest Du anders machen als Deine Mutter?
Ich wollte nicht so früh eine Ehe eingehen und meine Kinder würde ich nie beschneiden lassen.
Wie war es für Dich in Sawa, warst Du freiwillig dort?
Diese Erfahrung möchte ich nicht missen. Ich war neugierig gewesen, aber auch ängstlich. In Sawa konnte ich die Schule besuchen und das gemeinschaftliche Leben mit unterschiedlichen Menschen kennenlernen. Ich konnte meine Fähigkeiten und mein Wissen mit anderen teilen. Es gab einen geregelten Tagesablauf, wie ich es in meinem Elternhaus nicht kannte.
Würdest Du noch mal nach Sawa gehen?
Gerne (lächelt), es war eine schöne Zeit.
Deine Flucht nach Libyen, wie war das?
Schrecklich! Angst, Hoffnungslosigkeit, Ungewissheit, wohin ich laufe, was mich erwartet, besonders als Frau, gemischte Gefühle, die ich Niemandem wünsche.
Wie konntest Du Dich in schwierigen Situationen wehren?
Ach! Es ist unbeschreiblich, unmenschlich, die Gewalt an jungen Leuten zu sehen. Schlägereien, Vergewaltigungen, Misshandlungen aller Art waren unser Alltag. Ohne die Erfahrungen in Sawa hätte ich dieses Elend sicher nicht überlebt.
Kannst Du beschreiben, wie Dein Alltag als Frau in Libyen war?
Ich kann es nur so beschrieben: Ein Leben mit Angst und Hoffnungslosigkeit. Ein Land ohne Menschenrechte. Beengter Raum mit vielen ansteckenden Krankheiten. Das Schlimmste war der ständige Gedanke: wer wird als Nächster gedemütigt und geschlachtet. Wir haben nur gebetet und geweint, aber uns auch gegenseitig unterstützt. Es ist die traurigste Zeit meines Lebens.
Wie waren Deine Gefühle, als Du nach Deutschland gekommen bist?
Ich war erleichtert und konnte durchatmen. Und ich bin dankbar dafür, dass es doch Menschen gibt, die ein Herz haben und Menschen in Not unterstützen.
Was fehlt Dir hier von Eritrea?
Gemeinschaft, Nachbarn, die liebevolle Familie und dass ich niemanden habe, außer meiner jetzigen Familie.
Was ist anders für Dich in Deutschland?
Ich erlebe und empfinde immer wieder einen Kulturschock in bestimmten Situationen:
- auf Trauerfeiern
- beim Thema Pünktlichkeit (ich finde Pünktlichkeit gut)
- wenn ich die Sprachbarriere empfinde
- wenn ich mich schriftlich ausdrücken muss, das ist extrem schwierig für mich
Was sagst Du zu der Rolle der Frau allgemein?
Frauen sollten sich Selbstwertgefühl erarbeiten und pflegen und ihr Potential erkennen. Ich finde, es gibt keine spezifische Frauenarbeit und Männerarbeit, alles sollte gemeinsam bewältigt werden. Ich würde mir wünschen, dass Frauen mehr für ihre Rechte kämpfen.
Das Interview mit S. führte Elsa Tesfaselassie.
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