Loses Verhältnis zu den Fakten
von Ina Sembdner (Die Tageszeitung/ junge Welt)
Destabilisierung und Regime-Change: Bewaffneter Aufstand der TPLF gegen Äthiopiens Regierung von außen befeuert. Ein Gespräch mit Teclu Lebasse
In Äthiopien spielt sich seit einem Jahr nicht nur ein gewaltsamer Konflikt um Macht und die Durchsetzung eines ethnisierten Nationalismus ab, sondern auch ein medialer Krieg.Nahezu unverhohlen haben westliche Medien und Staaten – allen voran die USA– den bewaffneten Aufstand der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) von Beginn an in eine»Militäroffensive« der Regierung von Abiy Ahmed umgedeutet, unmittelbar den Vorwurfdes Völkermords in den Raum sowie das Eingreifen des im Norden an die Provinz Tigraygrenzenden Nachbarlands Eritrea an den Pranger gestellt. Weder nachweislich von TPLF-Milizen begangene Massaker, wie jenes am 9. November 2020 in Mai Kadra, bei demmindestens 600 Zivilisten getötet wurden, noch ein von Ahmed im Juni dieses Jahresausgerufener Waffenstillstand änderten etwas an dem offensichtlich verfolgten Ziel einer Destabilisierung des zweitbevölkerungsreichsten Landes auf dem afrikanischen Kontinent, strategisch gelegen am Horn von Afrika. Die TPLF antwortete mit der Ausweitung der Kämpfe in die Nachbarprovinzen und reklamiert nun für sich, kurz vor der Hauptstadt Addis Abeba zu stehen. (si)
Warum kämpft Eritrea auf Seiten der äthiopischen Regierung im Konflikt um die Provinz Tigray?
Mehrere Jahre lang hat die TPLF alle Friedensangebote oder konstruktiven Dialogeabgelehnt, während sie sich aktiv auf einen Krieg vorbereitete und versuchte, die positivenEntwicklungen in der Region zunichtezumachen. Am 3. November startete sie dann einenvorsätzlichen, massiven und plötzlichen Angriff auf alle Stellungen des äthiopischen Nordkommandos, um das größte äthiopische Kontingent zu neutralisieren.
Das erklärte Ziel der TPLF war es, die Waffen des Nordkommandos, das 80 Prozent des gesamten Arsenals besaß, zu beschlagnahmen, um die Macht in Äthiopien durch einen Kriegan sich zu reißen. Der militärische Plan, der vom Zentralkomitee der TPLF kurz vor dem von ihr selbst so bezeichneten »Blitzkrieg« gebilligt wurde, beinhaltete auch das Ziel, in Eritrea einzumarschieren, um einen »Regimewechsel« herbeizuführen und große Teile des souveränen eritreischen Territoriums in Tigray einzugliedern. Alle von Eritrea ergriffenenMaßnahmen tragen dieser Tatsache Rechnung.
Wie sind die unmittelbar nach Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen lautgewordenen Anschuldigungen gegen eritreische Streitkräfte in Äthiopien einzuordnen?
Der Konflikt inTigray hat verständlicherweise zu einer beträchtlichen Menge anBerichterstattung geführt. Weit weniger verständlich–und einfach inakzeptabel–ist jedoch,dass die überwiegende Mehrheit der Medien kläglich versagt hat. Fast täglich werdensensationslüsterne Schlagzeilen und Geschichten veröffentlicht, die auf Übertreibungen,wackeligen, unbestätigten Behauptungen von ungenannten Quellen und einem dürftigen, losen Verhältnis zu den Fakten basieren. Alles, was nach Logik, Vernunft, Skepsis oderkritischemDenken aussah, wurde weggeworfen, um durch schwerwiegende Verzerrungen,emotionale Appelle und regelrechte Unwahrheiten ersetzt zu werden.
Vergangene Woche hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte einen Bericht überMenschenrechtsverletzungen in demKonflikt veröffentlicht und allen Beteiligten schwereVerbrechen attestiert. Ihr Außenministerium hat daraufhin eine kritische Erklärungveröffentlicht. Was wurde darin genau bemängelt?
Der Bericht wirft eine Reihe kritischer rechtlicher, methodischer undfaktischer Fragen auf. Indiesem Zusammenhang sind folgende Grundpfeiler einer strengen Prüfung zu unterziehen:die rechtliche Zuständigkeit der Stellen, die die Untersuchung durchgeführt haben; dieStandards der Neutralität, Unparteilichkeit, Objektivität und Professionalität derUntersuchungsorgane; die Glaubwürdigkeit der Zeugen und die Mechanismen zurÜberprüfung des Wahrheitsgehalts; die Stichhaltigkeit und Gültigkeit der aus denErgebnissen gezogenen Schlussfolgerungen. Der Bericht der gemeinsamen Untersuchunglässt in fast allen diesen Punkten zu wünschen übrig.
Zudem gibt es seitens des EHRC (Äthiopische Menschenrechtskommission,jW) undinsbesondere seines Direktors Daniel Bekele seit langem Feindseligkeiten gegenüber Eritrea.Ein völlig diskreditierender Bericht, den Bekele im Januar 2013 über Eritreas Bergbausektorerstellte, als er Leiter der Afrikaabteilung von Human Rights Watch war, ist nur ein Beispielfür die umfassendere Agenda des Regimewechsels. Darüber hinaus haben die
Anschuldigungen über Menschenrechtsverletzungen mehrere Mutationen durchlaufen, seitsie von den berüchtigten TPLF-Medienmanagern in London und Brüssel ausgeheckt wurden.
Eritrea hält sich uneingeschränkt an alle Grundsätze und Bestimmungen der internationalenMenschenrechts-, humanitären und Flüchtlingsgesetze, deren Grundprinzipien in seineneigenen Gesetzen verankert sind. Die Regierung führt routinemäßigstrenge Untersuchungendurch und wird dies auch weiterhin tun, um sicherzustellen, dass im Falle einesglaubwürdigen und nachweisbaren Verstoßes gegen diese Gesetze durch Angehörige derVerteidigungskräfte Rechenschaft abgelegt wird.
Ihr Land hat 2018 einen historischen Frieden mit der Regierung von Abiy Ahmedgeschlossen. Wie sieht es drei Jahre später aus?
Die Regierungen von Äthiopien und Eritrea haben damals beschlossen, dass derKriegszustand zwischen den beiden Ländern beendet ist. Damit wurde eine neue Ära desFriedens und der Freundschaft eröffnet. Es wurde festgelegt, dass die Verkehrs-, Handels-und Kommunikationsverbindungen sowie diplomatische Beziehungen wiederaufgenommen werden und die Entscheidung über die Grenze, die 2002 vom Ständigen Schiedshof in DenHaag getroffen wurde, umgesetzt wird. Beide Länder erklärten, sich gemeinsam um Frieden, Entwicklung und Zusammenarbeit auf regionaler Ebene zu bemühen.
Die Vorteile, die sich daraus für die beiden Länder und ihre Völker ergeben, sind in der Tatenorm. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass die bisher erzielten Fortschritte nichtvollständig mit den Erwartungen und Bestrebungen übereinstimmen. Die Handels-undWirtschaftsbeziehungen beider Länder wurden nicht im gewünschten Umfang oder Ausmaß wiederaufgenommen.
Die Gründe sind offensichtlich. Erstens ist Frieden ein schweres Unterfangen, das nicht überNacht erreicht werden kann. Drei Jahre sind eine relativ kurze Zeitspanne. Darüber hinausbefindet sich Äthiopien in einer komplexen Übergangsphase. Bewaffnete Konflikte wurdennicht vollständig beseitigt. Es gibt Kräfte im Land, die das Friedensabkommen ablehnen undverzweifelt daran arbeiten, es zu zerstören und erneut Feindseligkeiten zwischen den beidenLändern auszulösen.
Alles in allem markierte dieses bedeutsame Ereignis einen Wendepunkt am Horn von Afrika,und zwar in jeder Hinsicht. Die von der TPLF verfolgte Politik der institutionellen ethnischenZugehörigkeit und des Machtmonopols wurde mit der Wurzel gepackt.
In westlichen Medien wirdAhmed als Kriegstreiber dargestellt. Auf Demonstrationen wiezuletzt am Wochenende in Äthiopien wird dagegen eine parteiische Darstellung desKonflikts und eine Einmischung der USA angeprangert. Welchen Hintergrund hat das?
Mitglieder der internationalenGemeinschaft, Staaten und nichtstaatliche Akteureunterstützen die TPLF moralisch und materiell. Das hat sie so ermutigt, dass sie droht, dieRegierung zu stürzen und ein Land mit 112 Millionen Menschen zu destabilisieren. IhreUnterstützer haben sie mit Kommunikationsausrüstung, Satelliteninformationen, Waffenund sogar Kämpfern versorgt. Jeder Versuch, einschließlich der Kampagne, die TPLF weiß zuwaschen, und die Greueltaten, die sie am äthiopischen Volk begangen hat,herunterzuspielen, kann nur kontraproduktiv sein. Die hohe Kriminalität der TPLF ist weder auf dem Radar der USA, der EU, bestimmter UN-Organisationen noch der ihnenzuarbeitenden Medien. Die Kardinalsünde der TPLF, den Aufstandskrieg und dieanschließenden irredentistischen Offensiven anzuzetteln, wurde nicht entschieden verurteilt.
Die demokratisch gewählte, souveräne Regierung ist bereit, konstruktiv mit den Freunden Äthiopiens zusammenzuarbeiten, um die zeitlichen Herausforderungen zu bewältigen und bleibt dem Fortschritt verpflichtet. Am Sonntag versammelten sich Zehntausende Äthiopierin der Hauptstadt Addis Abeba, um die nationalen Verteidigungskräfte zu unterstützen, gegen die TPLF zu demonstrieren und ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes anzuprangern. Man sollte meinen, dass die Medien und die Befürworter der TPLF die eindeutige Botschaft des Volkswillens in Addis Abeba, die zweifellos die nationale Stimmung in Äthiopien widerspiegelt, zur Kenntnis nehmen würden, anstatt sich auf unhaltbare Narrative zu versteifen bzw. diese zu wiederholen.