Bericht der jungen Welt zu den Angriffen auf das Eritrea Festival in Gießen 2023
Politisch gewollt
Trotz langer Vorgeschichte und detaillierten Erkenntnissen eskalieren mutmaßliche Eritreer in Gießen
Von Ina Sembdner / junge Welt, Ausgabe vom 19.07.2023
Das kleine Land am Horn von Afrika gilt derzeit vielen als Ausgeburt des Schreckens: Eine Militärdiktatur, die ihre Bevölkerung im sklavenähnlichen Frondienst auf unbestimmte Zeit zum Dienst an der Waffe zwingt. Die Rede ist von Eritrea, das wie kein Land frei von Menschenrechtsverletzungen und Widersprüchen ist. Aber es hat lange für seine Unabhängigkeit gekämpft und ist offenbar nicht bereit, es den imperialistischen Mächten der Welt zum Fraß vorzuwerfen. Und es lohnt einen genaueren Blick – auch und gerade in bezug zu den Angriffen auf das Eritrea-Festival am 9. Juli in Gießen.
Wer nach Quellen zu der »Militärdiktatur« sucht, ist zunächst einmal nicht schlecht beraten, das zwar vom US-Auslandsgeheimdienst CIA geführte, aber erstaunlich neutral gehaltene World Factbook zu Rate zu ziehen. Dort lässt sich zum Beispiel eine korrekte Bevölkerungszahl entnehmen. Entgegen der weitverbreiteten Angabe von 3,3 Millionen (etwa auch die Deutsche Presseagentur) sind es tatsächlich geschätzt knapp 6,3 Millionen Eriteer. Das spielt vor allem im Kontext Flucht und dem Verhältnis der Fliehenden zur Gesamtbevölkerung eine nicht unbedeutende Rolle. Isayas Afewerki steht seit dem Referendum zur Unabhängigkeit einer präsidialen Republik vor, die ohne Frage der Führung weitgehende Machtkompetenzen einräumt – eine bis 1997 ausgearbeitete und verabschiedete Verfassung findet keine Anwendung. Ebenso gab es seit 1993 keine allgemeinen Wahlen zur Nationalversammlung, 2001 wurden sie schließlich auf unbestimmte Zeit verschoben. Afewerki ist damit Staatsoberhaupt und Regierungschef sowie Vorsitzender des Staatsrats und der Nationalversammlung.
Heruntergespielt
Allgemein heißt es dann zu den Gründen: Die Regierung benutze weiterhin Grenzstreitigkeiten mit Äthiopien und Dschibuti als Vorwand für die Einschränkung der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten. Was erstaunt, denn der Friedensschluss zwischen Eritrea und Äthiopien hat 2018 dem Mann in Addis Abeba, Abyi Ahmed, für seine »ausgestreckte Hand« immerhin den Friedensnobelpreis eingebracht. Und das bis Ahmeds Amtsantritt seit 1991 herrschende Regime der sogenannten Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) brauchte im November 2020 nicht lange, um neben dem Nordkommando der äthiopischen Armee in der an Eritrea grenzenden Region Tigray auch die Hauptstadt des Nachbarlandes mit Raketen zu attackieren. Beim Auswärtigen Amt hörte sich das dann so an: »Im November 2020 führten mehrere Raketentreffer in Asmara und anderen Orten zu Schäden.« Zum Grenzkonflikt mit Dschibuti, der wie so oft auf dem afrikanischen Kontinent kolonialen Ursprungs ist, heißt es dort warnend, der Konflikt sei nicht gelöst und die Lage bleibe angespannt. Militärisch präsent sind dort die USA und Frankreich. Auch diese Situation rückt den formal unbegrenzten verpflichtenden Nationalen Dienst – aufgeteilt in Militär- und Zivildienst – in ein anderes Licht, wenn auch ein fahles.
Was nun das Eritrea-Festival selbst angeht, begann die Situation im vergangenen Jahr parallel zur Eskalation der TPLF im Krieg gegen Addis Abeba auch in Deutschland bzw. Gießen zu eskalieren. Im Sommer hatte das Eritrea-Festival wie schon seit 2011 in den dortigen Hessenhallen ohne Zwischenfälle stattgefunden, im August 2022 gab es dann jedoch einen gewaltsamen Angriff, bei dem der Grünen-Chef der Stadt Klaus-Dieter Grothe, der auch im Gießener Stadtparlament sitzt, eine zweifelhafte Rolle spielte und in der Causa bis heute spielt. Er führte damals eine Demonstration gegen ein eritreisches Konzert an – auch hier der Hinweis auf die flächendeckend falsche Berichterstattung, bei der im Rahmen des diesjährigen Eritrea-Festivals behauptet wurde, dass es bereits im vergangenen Jahr bei dieser Veranstaltung zu »Auseinandersetzungen« gekommen sei. Und der Grünen-Politiker ist sich nach wie vor keiner Schuld bewusst, trotz öffentlicher Rücktrittsforderungen.
So erklärte er Ende August 2022 gegenüber der Gießener Allgemeinen, er habe von der Gefahr gewaltsame Ausschreitungen zunächst nichts mitbekommen. Als »Teilnehmer« hatte er aber freundlicherweise sein Auto und eine Lautsprecheranlage zur Verfügung gestellt, um gegen das Konzert, bei dem nach Grothes Ansicht »zum Völkermord in Tigray« aufgerufen werden sollte, zu protestieren. Allerdings gibt er später zu Protokoll, dass er bereits im Vorfeld »alles versucht« habe, »den Protest in gewaltfreie, legale und politische Formen zu kanalisieren« – also sich doch über das potentielle Gewaltrisiko im Klaren gewesen ist. Weiter behauptete Grothe, dass »die Störer«, also rund 100 mit Stöcken, Eisenstangen und Messern bewaffnete junge Männer, nicht aus den Reihen der »friedlichen und genehmigten« Demonstration gekommen seien. Anders die Einschätzung des Pressesprechers des Polizeipräsidiums Mittelhessen, Jörg Reinemer. Ihm zufolge handelte es sich bei den Angreifern um Teilnehmer der genehmigten Demonstration. Rund 100 Personen hätten sich vom angemeldeten Weg abgesondert und seien in Richtung Messegelände aufgebrochen, erklärte er am 5. Oktober dem Gießener Anzeiger. Und betonte, »die sehr hohe Gewaltbereitschaft und das aggressive Vorgehen« während des »überfallartigen Angriffs«, bei dem letztlich 33 Menschen – darunter sieben Polizisten – Verletzungen davontrugen. Von den Beamten wurden daraufhin Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt, die nächste Stufe wäre der Schusswaffengebrauch gewesen, erklärte Reinemers. Nach Angaben des Blatts unmittelbar nach der Gewalt, die letztlich zu einem von der Gegendemo umjubelten Abbruch der Veranstaltung führte, sei es auch im ganzen Stadtgebiet zu Angriffen auf anreisende Konzertbesucher gekommen. Grothe goutierte den »Erfolg« seiner Demonstration mit dem (später wieder gelöschten) Tweet: »Sieg von Gerechtigkeit und Demokratie.«
Mit Ansage
Fatal ist, dass sich dieses Szenario nahezu identisch in diesem Jahr wiederholt hat und die Stadt Gießen und die Beamten eigentlich hätten gewarnt sein müssen. Das waren sie wohl auch, denn mit einem plumpen Verbotsverfahren sollte das Festival in diesem Jahr nicht besser geschützt werden, sondern die bekannte Gefahrenlage dem Zentralrat der Eritreer aufgebürdet werden, der das Fest veranstaltet. So hieß es in der Verfügung des Ordnungsamtes vom 28. Juni: »Durch verschiedene Personen wurden insbesondere Tik-Tok-Videos verbreitet, die konkrete Drohungen gegen ihre Veranstaltung und deren Besucher enthielten. Des Weiteren werden auch direkte Drohungen gegen die Polizei ausgesprochen. Als treibende Gruppierung hinter den Mobilisierungsversuchen wurde die sog. ›Brigade N’Hamedu‹ festgestellt, die hiesigen Erkenntnissen zufolge bei den Ausschreitungen vom 20. August 2022 maßgeblich beteiligt war und zu Gewalt aufruft, um das kommende Festival zu verhindern. Als Rädelsführer der Gruppierung wurde eine Person verifiziert, die unter dem Namen ›John Black‹ agiert (…) In einem Video spricht ›John Black‹ davon, dass Teilnehmer Ihrer Veranstaltung diese nicht überleben würden. Eine weitere Person redete öffentlich innerhalb von Videos darüber, auch keinen Halt vor älteren Menschen, Frauen oder Kindern machen zu wollen und dass man Blut fließen sehen wolle.« Die Zahl der Gewaltbereiten wurde vom Amt für dieses Jahr darüber hinaus noch höher eingeschätzt. Aufgrund dieser Gefährdungslage wurde dem Veranstalter bescheinigt, kein ausreichendes Sicherheitskonzept vorweisen zu können. Intern damit befasste Personen berichteten jW darüber hinaus von direkten Versuchen, die Vorbereitung der Veranstaltung durch Behörden zu torpedieren.
Dem machte letztlich der Hessische Verwaltungsgerichtshof einen Strich durch die Rechnung, indem er dem Eilantrag des Zentralrats recht gab und urteilte, dass der Antragsteller für die in den sozialen Netzwerken ausgesprochenen Drohungen von Gewalt nicht verantwortlich gemacht werden könne. Das Sicherheitskonzept des Vereins sei ausreichend, um den drohenden Gefahren für Veranstalter und Besucher zu begegnen, hieß es vom 8. Senat.
Dass es trotz dieser Vorgeschichte in der Nacht auf den 9. Juli und an dem Samstag selbst zu stadtweiten Gewaltausbrüchen und Attacken auf Besucher des Eritrea-Festivals und Polizisten kam, lässt Beobachter dann doch erstaunt zurück. Im Oktober hatte Polizeisprecher Reinemer erklärt, dass eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Staatsschutzes eingesetzt wurde. Ermittlungen wurden damals wegen des Verdachts der Körperverletzung, der gefährlichen Körperverletzung, der Sachbeschädigung und des schweren Landfriedensbruchs aufgenommen. Auf jW-Nachfrage erklärte Reinemer nun, dass diese Erkenntnisse »natürlich« in die Lagebeurteilung für das diesjährige Event einbezogen wurden. Zu den Strukturen und Hintergründen der Angreifer könne er jedoch noch keine Antwort geben, »da diese Erkenntnisse und Hinweise noch Gegenstand der Ermittlungen zu den Vorkommnissen aus 2022 sind«. Auch zu der Frage, ob den Vorwürfen nachgegangen werde, dass es sich möglicherweise um Personen aus der äthiopischen Provinz Tigray handele – wo ebenso wie in Eritrea tigrinisch gesprochen wird – und nicht um Eritreer, etwa mit Personenfeststellungsverfahren, verwies Reinemer ebenfalls darauf, dass die Ermittlungen auch dazu noch andauerten. Die Gewalttäter sind auf jeden Fall so lange weiter auf freiem Fuß und bereiten sich mutmaßlich auf die nächste »Störung« vor – ein Bärendienst für berechtigte Kritik an der eritreischen Regierungsführung und Protest, der friedlich auf die Straßen getragen wird.
Hintergrund: Krieg der TPLF
Die Volksbefreiungsfront von Tigray (Tigray People’s Liberation Front, TPLF) wurde 1975 im westlichen Tigray von einer kleinen Gruppe Intellektueller, darunter Meles Zenawi, gegründet. Mit anderen äthiopischen Parteien errang die TPLF im Verbund der Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker (Ethiopian Peoples’ Revolutionary Democratic Front, EPDRF) 1991 einen Sieg gegen das linksnationalistische, im wesentlichen vom traditionellen Staatsvolk der Amharen getragenen Regime der Partei Derg unter Mengistu Haile Mariam. Zenawi regierte Äthiopien bis zu seinem Tod 2012. Die Eritrean People’s Liberation Front (EPLF) erkämpfte ihrerseits 1991 die Unabhängigkeit Eritreas vom großen Nachbarn, von dem es 1963 annektiert worden war. 1993 folgte ein entsprechendes Referendum, bei dem eine überwältigende Mehrheit für die Unabhängigkeit votierte.
Nach der Wahlniederlage der TPLF 2018 gegen Abiy Ahmed konzentrierte sich die Macht der den USA nahestehenden Clique auf die Provinz Tigray im Norden Äthiopiens. Bis im November 2020 ein konzertierter Angriff auf das äthiopische Nordkommando in Tigray folgte und ein brutaler Krieg gegen die Zentralregierung in Addis Abeba losgetreten wurde. Allein an jenem 3. November sollen Hunderte äthiopische Soldaten getötet worden sein. Im Sommer 2021 startete die Miliz dann einen letztlich erfolglosen Marsch auf die Hauptstadt und weitete die Kämpfe auch auf die Nachbarprovinzen Tigrays, Amhara und Afar, aus. Die eritreischen Streitkräfte unterstützten Addis Abeba bei der Bekämpfung des Aufstands, nachdem sie selbst erneut zum Ziel der TPLF geworden waren. Unter der Führung der »Volksbefreiungsfront« hatten sich Äthiopien und Eritrea seit 1991 in einem latenten Kriegszustand um zwischen beiden Ländern umkämpfte Grenzregionen befunden.
Im August 2022 – zeitgleich mit den gewaltsamen Protesten »eritreischer Oppositioneller« in Gießen – startete die TPLF nach Monaten einer relativen Waffenruhe eine weitere Offensive und schreckte auch nicht davor zurück, nunmehr öffentlich die notwendigen Mittel dafür zu rauben. Konkret: zwölf Tanklastwagen mit 570.000 Litern Treibstoff für die humanitäre Versorgung des nördlichen Äthiopiens. »Unglaublich und beschämend« sei dieses Vorgehen, musste der Chef des UN-Welternährungsprogramms, David Beasley, einräumen. Das gängige Narrativ war bis dahin, dass die äthiopische Regierung die Region von jeder Hilfslieferung abschneide und für die verheerende humanitäre Lage dort verantwortlich sei. Nun konstatierte Beasley Richtung TPLF: »Millionen Menschen werden verhungern, wenn wir keinen Treibstoff für die Lieferung von Lebensmitteln haben.«
Im September ruderte die Miliz dann zurück und gab sich bereit für Friedensgespräche unter Führung der Afrikanischen Union (AU). Im November schließlich begannen in Südafrika Friedensgespräche zwischen beiden Parteien. (si)
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